Der Anschein von Realität

Zur Ausstellungseröffnung am 27.11.2020 in der Stiftskirche in Hannover.

Von Dr. Simone Liedtke, Pfarrerin und Dozentin für Medienpädagogik, Religionspädagogisches Institut, Loccum.

 

Ein weißes Blatt. Und Stille.

Und ein Baukasten zum Weltenschöpfen.

Schnipsel:

Ausschnitte. Abschnitte. Zuschnitte.

Kunst. Kitsch.

Reportage. Reklame.

Broschüre. Katalog. Magazin.

Schwarzweiß. Grellbunt.

Weltansichten. Dekonstruiert mit dem Skalpell.

Aber das: ganz sanft. Vorsichtig.

Jeder Schnitt trennt, schafft so aber auch Kontur. Und macht oft erst sichtbar, was zuvor - direkt vor Augen stehend - unentdeckt blieb.

Der Collagist: ein Demiurg, der nichts Geringeres baut als Welten. Und dabei, wie es sich für einen solchen Weltenschöpfer gehört, aus Vorgegebenem schafft. Aus einem Fundus an Lebensbildern – manche gedruckt auf Papier, manche bewahrt im Herzen.

Jean Luc.

 

Lieber Jean Luc: Du erzählst unendliche Geschichten. Wenn ich mir eines deiner Bilder anschaue, fühlt sich das an, als würde sich mir die Tür zu einem wundersamen Zimmer öffnen. Aus dem Bild erwächst mir ein ganzer Raum, ein kleines, jeweiliges Universum. Ausgeklügelte Ästhetik. Mit eigenen Gesetzen von Schwerkraft. Mir begegnen Bewohnerinnen und Bewohner, die mir ähneln und mir doch mein Anderes sind: ein Fragment, ein Zerrbild, eine Vision meiner selbst. Eine Version von mir, die ich noch nicht bedacht habe, oder die ich nicht zu denken wage. Ein Kommentar zu dem, was ich zu sehen mir angewöhnt habe.

 

Ich gehe gern in deinen Bildern spazieren, lieber Jean Luc – es taumelt sich darin so schön. Ich bestaune schwindelerregende Bauten. Immer wenn ich meine, ich hätte einen Weg entdeckt, nimmt er eine unerwartete Wendung. Nur zu Ende sind die Wege in deinen Bildern nie. Wo sich eine Grenze abzeichnet, ist zu erahnen, was hinter ihr auf mich wartet. Vielleicht noch nicht in Sichtweite. Aber von einnehmender Präsenz. In diesem Sinne erfahre ich deine Bilder als transzendierend.

 

Lieber Jean Luc, du bist „der Collagist“: mit vollem Namen Jean Luc Tissot, geboren 1946 in der Schweiz. Seit 1978 lebst du in Deutschland, seit 1991 in Braunschweig. Ursprünglich warst du mal Lehrer. Aber das Leben hat dich nicht hinter einem Pult sitzen lassen, sondern auf weite Reisen geschickt. Sehr wichtig ist dir deine Zeit beim Friedens- und Entwicklungsdienst EIRENE, den du lange Jahre geleitet hast. Engagement für Gerechtigkeit und Frieden liegen dir am Herzen. Für viele Jahre warst du Mitarbeiter der Braunschweiger AIDS-Hilfe. Und auch heute noch bist du ehrenamtlich aktiv – wenn du nicht Collagen zauberst. Oder: gemeinsam mit deinem lieben Mann, Jürgen Bittner, im Wohnmobil die Welt bereist. Die schönen Videos und Fotos von all den wunderbaren Orten, die ihr entdeckt, sind an sich schon Kunst!

 

Jean Luc, dein künstlerisches Talent wurde früh entdeckt; mit dem systematischen Arbeiten an den für dich typischen Collagen beschäftigst du dich seit dem Jahr 1987. Künstlerisch beeinflusst haben dich Werke der Surrealisten. Ich weiß von dir, dass es wie eine „Sprengung“ deiner Sehgewohnheiten war, als du zum ersten Mal surrealistische Bilderwelten zu Gesicht bekamst. Aufgewachsen bist du in einer impulsarmen „Enge“, so hast du deine schweizerische Heimat einmal beschrieben. Die Begegnung mit der Kunst war für dich bahnbrechend und wegweisend. Raus aus dem Schweizer Jura, raus aus Arbeiterwelt und Uhrenindustrie.

Zu Beginn deiner künstlerischen Karriere hast du dich auch der Literatur gewidmet, dich dann aber relativ schnell auf die bildende Kunst konzentriert. Charakteristisch für dein Wirken sind Collagen. Oft erstellst du ganze Bilderreihen zu ausgewählten Themen.

Du arbeitest ohne Ausnahme mit vorgefundenen Ausschnitten fotografischer Abbildungen, d.h. du stellst nicht etwa erst Fotografien mit „passenden“ Abbildungen her, um sie hernach zu verarbeiten. Du arbeitest ausschließlich mit Fundstücken aus Zeitungen, Magazinen, Kalendern, Katalogen, Kunstbänden etc. … Zunächst bist du als Künstler also Sammler. Dein eigenes kreatives Wirken beginnt mit Demontage: zerschneiden, Bilder zerlegen. Und erst dann Ausschnitte, „Schnipsel“, neu anordnen, immer wieder komponieren, Bildteile auswechseln – bis schließlich ein neues Bild entstanden ist und als solches fixiert wird. Du selbst vergleichst dein Arbeiten an Collagen mit der Arbeit eines „traditionell“ zu nennenden Malers, der mit Pinsel und Farbe Motive hinzufügt, anderes übermalt, Akzente setzt, Flächen teilt oder verbindet.

Du arrangierst deine Bilder mit exakter Strukturierung durch Parallelen, Diagonalen, Proportionen und durch ein jeweils durchgehaltenes Farbschema. Dir selbst, hast du einmal gesagt, gefällt es am besten, wenn die Bilder-Räume, die du „gebaut“ hast, auf den ersten Blick kühl wirken wie Beton- und Stahlarchitektur und erst beim näheren Hinsehen Schönheit und Leidenschaft offenbaren – dann aber eindringlich. Unvergesslich.

Jean Luc, du lässt rätselhafte Welten entstehen; aber nie heile Welten. Immer ist in deinen Bildern eine Spannung auszumachen, die z.B. dadurch entsteht, dass unserem Auge vertraute Elemente in völlig unerwarteten Zusammenhängen gezeigt werden. Dabei arbeitest du auch mit religiösen Motiven. Es geht um das Zeigen und Zulassen von Vielfalt. Menschliche Identität (eines deiner Themen) hat unzählige Facetten – diese gilt es an sich selbst wie am Anderen zu entdecken und zu würdigen. Viele der Collagen thematisieren dabei Sorgen, die den Menschen des 21. Jahrhunderts umtreiben. Die motivischen Spannungen der Bilder nehmen Spannungen auf, die menschliche Existenz betreffen: Einerseits haben wir eine Sehnsucht nach Ruhe; andererseits skandieren wir „The Show must go on!“ und arbeiten beständig gegen uns an. Einerseits haben wir den Wunsch, uns selbst akzeptieren zu können; andererseits verfallen wir einem Selbstoptimierungswahn, mit dem wir Körper und Seele traktieren. Wir spielen Natur gegen Kultur aus; wir schwanken zwischen Mitmenschlichkeit und Angst vor dem Fremden; wir sind hin- und hergerissen: wollen uns treu bleiben und uns doch beständig neu erfinden, neu arrangieren, collagieren…

Vielleicht sind Collagen als solche das Sinnbild unserer Zeit. Unsere gewohnten Lebensbilder werden dekonstruiert, einzelne Formen bekommen - losgelöst aus ihren ursprünglichen Kontexten - eine schärfere Kontur. Beunruhigend scharf mitunter. Und so sperrig, dass sie mit keiner anderen Form mehr zusammenpassen wollen. Es setzen sich manch neue Bilder zusammen, und auch sie wirken zum Teil eher surreal. Erst bei genauem Hinsehen geben sie preis, dass ihre Zutaten so neu nicht sind, sondern althergebracht, wie aus einem früheren, etwas angestaubten Gemälde herausgeschnitten und nun lediglich neu platziert und kontextualisiert. Nicht immer: stimmig.

 

Welche Bilder bringen wir mit?

Welche Bilder machen wir uns?

Blicken wir zurück?

Gönnen wir uns Phantasie?

Sehen wir schwarz?

 

Deine Bilder, lieber Jean Luc, stellen uns Betrachtenden buchstäblich vor Augen, warum wir Kunst brauchen – nicht nur, aber gerade auch in Krisenzeiten. Kunst ist eine Form der Reflexion unserer Lebensumstände. Die Erfahrungen, die wir im Leben machen, die wir erleiden oder bestaunen, die wir befürchten oder erhoffen, werden in der Kunst zu Ausdruck und Geltung gebracht. In ihr findet Darstellung, was sich nicht erwarten und definieren lässt, und dennoch oder gerade deswegen eine erschütternde Präsenz behauptet. 

Darin zeigt sich Kunst der Religion verwandt. Beide können uns in einander ergänzender Weise in Beobachterdistanz bringen zu den Dingen, die uns widerfahren, und zu den Dingen, die wir erst einmal einfach machen. Kunst und Religion akzentuieren unsere Wahrnehmung. Sie zeigen Interpretationsalternativen auf. Sie geben der Einsicht Raum, dass wir nie fertig sind, sondern immer anscheinend. Schon ganz bei uns selbst und zugleich: noch nicht. 

 

Von Deinen Collagen, lieber Jean Luc, lasse ich mich daran erinnern, dass sich aus den Fragmenten meiner Lebensbilder unter schöpferischem Blick ein Ganzes zusammensetzt – der neue Mensch.

Auf dass wir über uns hinaus wachsen! In den Himmel, dessen Maßwerk statisch ungehorsam ist und deshalb mit uns klein und mit uns groß sein kann. Völlig unrealistisch. Aber: wahr.

 

Dr. Simone Liedtke

 

 

 

 


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