Raubzüge

Eine Ausführung des Autors Gilbert Holzgang über die Collagen von Jean Luc

 

 

Über Jean Luc zu schreiben ist für mich ein Vergnügen, weil er mit seiner Methode, eigene Kompositionen aus Fotomaterial anderer Künstler zu collagieren, vorbildlich ist für meine eigene Arbeit. Wir sind beide Diebe. Ganz ähnlich wie Jean Luc seine Collagen aus Teilen von vorgefundenen Fotografien baut, benutze ich vorgefundene Texte anderer Personen (Briefe, Tagebücher, Reden und Anweisungen usw.), um dokumentarische Theaterstücke zu bauen. Gestatten Sie mir deshalb, meine kleine Einführung zu dieser Ausstellung von Jean Luc in gewohnter Weise aufzubauen und zu beginnen - mit einem Diebstahl. Ich benutze einen Text, den nicht ich, sondern der Lyriker und Erzähler Mario Wirz geschrieben hat, für meine Zwecke, zerschneide ihn in kleine Stücke, benutze Sätze, die ich bei anderer Gelegenheit schon geschrieben habe, baue neue dazu und füge alles zusammen zu einer Wortcollage. Ich zitiere:

 

„Raubzüge

Ich plündere schamlos die Gesichter der Verliebten

in der U-Bahn

und raube ihr Lächeln.

Auch der zärtliche Blick des Jungen

am Tresen für seinen Freund

landet bei mir,

kostbares Juwel der Lebenden.

Der leichte Schritt der Glücklichen

verzögert meinen Fall,

und es geht weiter,

auch diesen Tag.

Ich stehle mich heimlich davon

mit den furchtlosen Stimmen der Straße

und bändige mit ihnen die Stille.

Auch die Hoffnungen meiner Freunde

sind nicht sicher vor mir.

Skrupellos bringe ich ihre Träume in meinen Besitz

und ahme ihre Gesten nach,

wenn sie von der Zukunft sprechen.“

 

Dieses Gedicht von Mario Wirz setzt vielleicht in poetische Sprache um, was Jean Luc umtreibt, wenn er am Arbeitstisch sitzt und wenn sich die nächtliche Dunkelheit vor das Fenster gehängt hat. Dann blättert er in Zeitschriften und Bildbänden, sieht da ein verliebtes Lächeln, dort einen dehydrierten, schön modellierten Brustkorb, Anzeichen von Lebensfreude und Gesundheit – und raubt die Beute den Fotografen, die die Bilder geschossen haben. Ein „kostbares Juwel der Lebenden“ mehr! Mit dem Eifer des Sammlers greift er zur Schere, schneidet Figuren, Farben und Formen aus, legt sie in Fächer und Mappen und sichert sie, die Impulsgeber von neuer, eigener Kreativität. Die Demontage als Konstruktionsschritt. Oder er legt gleich los mit dem Komponieren und bändigt mit den geraubten Versatzstücken fotografierten Lebens die Stille, die sich am frühen Abend über Braunschweig senkt.

 

Wenn man Jean Luc zuhause besucht, fällt einem eine Parallele auf zwischen seinem Wohnviertel und seinen Bildern: das westliche Ringgebiet in Braunschweig ist selber eine Collage verschiedenster Elemente der Geschichte. Die stacheldrahtbewehrte Gefängnismauer, ein Krankenhaus, der Friedhof mit Familiengrüften aus dem Biedermeier, ein Häuschen mit wild verwachsenem Restgarten und Löchern im Dach komponieren und kompostieren sich zum Puzzle einer geschichtsträchtigen Vorstadt. Neben vierstöckigen Gründerzeithäusern wohnt Jean Luc mit seinem Mann in einem zurecht-sanierten Fachwerkhaus. Die Verbundsteine der Gartengehwege geben definitiv die Richtung an durch den kurzgeschorenen Rasen, das Treppenhaus entspricht neuen F- und T-Normen – alles strahlt festgefügte Ordnung und klare Orientierung aus. Wenn man sich in die Arbeiten von Jean Luc vertieft, sieht man auf den ersten Blick ebenfalls präzise Ordnung und – fast möchte man sagen – schweizerische Gepflegtheit. Jean Luc, ein Eidgenosse wie ich selber, hat möglicherweise die Exaktheit der Uhrenindustriearbeiter, die seit 1700 in seiner Heimatstadt Le Locle lebten, ebenso in sich aufgenommen wie ich, der das Verweben von Textelementen von Vater und Großvater übernommen hat, die in der Textilindustrie tätig waren. Vielleicht ist dies eine schweizerische Tugend, der Versuch, aus dem kleinen zur Verfügung stehenden Raum (die Schweiz ist kleiner als Niedersachsen) das Optimum herauszuholen. Im Fall von Jean-Lucs Arbeiten ist das Optimum ein in sich stimmiges Bild, dessen Elemente – Gesichter, Hände, Bauwerke, Wellen, erotische männliche Körper – überschaubar sind in der Anzahl und ebenso präzise angeordnet wie die Häuser in seiner Heimatstadt, die nach einem Brand 1833 in Schachbrettmanier wieder aufgebaut wurde, wohlgemerkt unter der Herrschaft der Könige von Preußen. Ja, die Preußen herrschten bis 1857 über das französisch sprachige wasserreiche Juratal mit seinen Bauern, die in Heimarbeit Uhren herstellten – Le Locle gilt als Wiege der schweizerischen Uhrenindustrie, die etwa 1970 ganz gewaltig in die Krise geriet, so dass viele Einwohner auswanderten, das Städtchen verlor seither etwa 30 % seiner Bevölkerung, das Altvertraute verlor Daseinsgrund und Funktion, wurde zur Fremde.

 

Ähnlich ergeht es den realistisch fotografierten Bildelementen, mit denen der Auswanderer Jean Luc arbeitet, sie sind durch Dekomposition verfremdet, wirken surreal, bodenlos, haltlos und schweben oder tanzen in ungewohntem Zusammenspiel. So in den beiden Serien „Der Junge und der Berg“ und „Der Alte und das Meer“, die vor kurzem in Braunschweig ausgestellt waren. Nix da von fachwerkverzapfter Statik, vertrauter Proportion, üblicher Perspektive. Wie in einem Kinderkaleidoskop segeln die Bildteile zwischen den Begrenzungen des Bildträgers herum, oft in einem in sich ruhenden spannungslosen Quadrat. Da ist kaum ein Halt. Als hätte der Künstler unter dem Einfluss von Alkohol oder nicht ganz so legitimierten und steuernabwerfenden Drogen seine Werke geschaffen – was überhaupt nicht der Fall ist, Jean Lucs visuelle Phantasie ist auch nüchtern berauscht genug, um ihn mitzureißen in einen spannenden Entstehungsprozess, der oft zu Ergebnissen führt, die bei Beginn der Arbeit nicht abzusehen waren. Können sich nicht auch in Träumen ganz klare, vertraute Formen und Gestalten plötzlich verwandeln in völlig andere Formen und Gestalten? Die ganz real, vertraut und hautnah erscheinen, aber seltsamerweise nicht der Schwerkraft gehorchen, verdoppelt oder verdreifacht sind? Zum Schrecken oder zum Genuss des Träumers? So ähnlich strudeln die Bildelemente Jean Lucs in den Bildräumen herum. Bei genauerem Hinschauen merkt man, dass die Arbeiten stark strukturiert werden durch Parallelen, Diagonalen, Proportionen und durch eine zumeist enge Begrenzung des Farbenspektrums. Alles ist sehr exakt gearbeitet. So genau und so fantastisch, wie es der Italiener Giorgio de Chirico, der Spanier Salvador Dali, der Belgier Magritte oder der Katalane Juan Miró auch machten. Die Beliebigkeit des „Alles ist möglich“ soll nicht eintreten, die Gefahr, zu viele gefundene Materialien zusammenzubringen, die beim Collagieren immer besteht, soll abgewendet werden durch eine strenge Reduktion. Die vielen Stunden, die der Schweizer Jean Luc mit dem Komponieren der Stücke nach einmal gefassten, aber auch sich bei der Arbeit verändernden Themen verbringt, seien das Faszinierendste, sagt er, vergleichbar mit der Arbeit traditioneller Maler, die mit Pinsel, Spachtel und Farbe hier was hinzufügen, dort was übermalen, Akzente verstärken, Gewichte verschieben, oder Flächen zusammenziehen und Linien durch verschiedene Elemente hindurch verlängern.

 

Jean Luc, 1946 geboren, hat, nach jahrelanger Arbeit als Oberstufenlehrer und als Afrika-Entwicklungshilfe-Angestellter, die Chance genutzt, Künstler zu werden. Erste Versuche, in der Fremdsprache Deutsch Texte zu schreiben, konnten ihn nicht befriedigen. Seit 1990 entwickelt er als Autodidakt sein Talent und seine Technik der Montage von Bildelementen, die er in Zeitschriften und Fotobänden findet, sorgfältig ausschneidet und auf die gewünschten Bildträger aufleimt. Ein Teil der Arbeiten – und die hier ausgestellten gehören dazu - wird abfotografiert und am PC weiterbearbeitet: die Schnittstellen oder Konturen der Montageelemente werden verbessert, nicht die Größen oder das Dargestellte selber, nur die Ränder respektive Übergänge zu anderen Bildelementen. An Jean Lucs Arbeitstisch mischt sich das alte Handwerk des Scherenschnitts mit der High Tech des 21. Jahrhunderts etwa so, wie in seinem Wohnquartier Fachwerk- und Lotterhäuser neben der Funkanlage des Krankenhauses und den Überwachungskameras des Gefängnisses stehen. „Skrupellos bringe ich ihre Träume in meinen Besitz“, schreibt Mario Wirz – skrupellos durchwühlt Jean Luc Bildbände und Zeitschriften, Magazine und Fotobände nach Bildern, die er in seinem Collagengefängnis verwahren kann, bis er mit ihnen arbeiten will. Er zerstört, um Neues zu schaffen, er „zitiert“ als Dichter neuer Bildtexte. Eine Lust ist es ihm, Schöpfer zu sein, eine Passion, ein Sog. Minuten, Stunden vergehen, ohne dass man weiß wie. Das Foto eines leicht und glücklich Dahinschreitenden ist der Zünder, die Suche nach einem dazu passenden, aber irritierenden Raum ist eine Plage, „Ich hatte doch mal einen gekachelten Flur? Wo ist er bloß? Hier? Nein, aber hier, diese Straße passt noch besser.“ Schnell unter den Schreitenden gelegt, aber begrenzt von dieser Wand, nein, von jener, bis der leichtfüßige Tänzer eingekastelt ist in einem Flur mit Leuchtstoffröhrenlicht.

„Ich stehle mich heimlich davon“, schreibt Mario Wirz. Mag sein, dass Jean Luc sich in ähnlicher Weise zurückzieht vom Treiben der Anderen in den Kneipen und U-Bahnen, um zuhause die Bilder zu kreieren, die sich wie von selber aus ihm heraus zusammenfügen aus den Bruchstücken der erlebten und der fotografierten Welt. „Und es geht weiter – auch diesen Tag“, schreibt der Dichter in dem Gedichtband „Ich rufe die Wölfe“, aus dem ich mir erlaubte zu zitieren. Ich rufe die Wölfe, denkt vielleicht auch Jean Luc, wenn er sich konfrontiert mit seinen geheimsten Gedanken und Gefühlen, die er hat, seit er weiß, dass er HIV-positiv ist. Ein Schock war es im Jahre 1987, als ihm ein „positives Testergebnis“ mitgeteilt wurde, eine Lähmung befiel ihn, eine Starre, bis er sich dem Schrecken stellte, sich mit Anderen, Gleichgestellten traf und seine alte Leidenschaft, Collagen zu fertigen, wieder aufnahm. Mit neuen Themen, mit verstärkter Schubkraft. Nicht mehr die hippen sexuellen Aspekte der Schwulenwelt waren jetzt Thema seiner Kompositionen. Was ihn jetzt faszinierte, war, absichtslos, ohne vorgefertigtes Thema Bildelement an Bildelement zu fügen und zuzusehen, welche Assoziationsmöglichkeiten ihnen entsprangen, welche Räume zu purzeln begannen. „Ja, diese Räume zu bauen, ist schön“, sagt er. Die Schrecken eines sogenannt positiven Bescheides werden gebändigt, bewältigt und genutzt zu positiver künstlerischer Arbeit.

 

Ich kenne die Sogwirkung, die das Zeichnen von Bühnenbildern hat, in denen sich eine geplante Theateraufführung abspielen könnte, kenne den Eifer, mit dem ich geliebte Raumideen verwerfe und mich nach neuen sehne, auf dem Papier Podeste und Stellwände hin und herschiebe, mir vorstelle, wo die Schauspieler auftreten und agieren können – vielleicht macht Jean Luc ähnliche Stunden des kreativen Wahnsinns durch, wenn er Zeit hat, in seinem großen Foto-Fundus von Figuren, Räumen, Laufstegen zu wühlen, bis es ihm eine Gestalt besonders angetan hat und er ihre Welt erschafft - als wär’s nicht seine eigene Welt, die er dabei kreiert. Schauen Sie sich die Collagen an! Lassen Sie sich hineinziehen in den barocken Schlund, in den der Nackedei stürzt. Kennen Sie dieses Gefühl aus Kinderträumen: zu fallen, fallen, fallen? „Der leichte Schritt der Glücklichen verzögert meinen Fall“, schreibt Mario Wirz. Oder kennen Sie den Moment, als Sechzigjähriger in Winterjacke und Mütze unverhofft einen Zwanzigjährigen zu sehen, der gerade seinen Waschbrettbauch einölt und den Duft des Öls in seiner Handfläche riecht? Aufregende Momente dieser Art solls geben. Auf jeden Fall kennen Sie das Ticken der Armbanduhr, wenn Sie müde Ihren Kopf aufstützen und Musik hören möchten, und es tickt und tickt und tickt, die Zeit vergeht und erinnert an Arbeitspflichten und Verabredungen. Das Schockerlebnis der achtziger Jahre hat ein neues Zeitgefühl in Jean Luc geschaffen. Carpe diem! ist nun das Motto, Nutze den Tag! Kein Wunder, lassen sich in den hier ausgestellten Werken viele Umsetzungen zum Thema Vergänglichkeit finden. Und doch ist „Das Ganze ein Spiel, nichts weniger“, wie Samuel Beckett sagen würde. Ein lustvolles Spiel auch, mit Schönheit, Freude und Liebe, mit den wirklich positiven Aspekten des Schwulseins. Ist es nicht so, dass ein „positiver“ Bescheid diese positiven Seiten fördert – die Freundschaft, das Sich aufeinander verlassen können, das Gefühl, zu wissen, was wirklich wichtig ist im Leben? „Und ahme ihre Gesten nach, wenn sie von der Zukunft sprechen“, schreibt Mario Wirz. Steigert die Erfahrung der Todesnähe die Erfahrung zu leben? Unter Umständen sagt Jean Luc. Wenn man den Schock verarbeitet. Groß ist aber auch die Gefahr, sich zurückzuziehen mit einem „positiven Bescheid“ in die Klammheimlichkeit, sein Leiden im Geheimen zu halten aus Angst vor Diskriminierung. Nicht so Jean Luc. Sein eigenes Ziel ist künstlerischer Ausdruck, nicht pädagogische Arbeit. Bei seinen besten Arbeiten bleibt man stehen, ohne sie rasch abhaken zu können. Man staunt ob eines Einzelteils, sieht mit der danebenliegenden Figur einen Ansatz von Geschichte und hat trotzdem sogleich das Gefühl, dass sich mit jeder Sekunde neue Fragen stellen. Gemeint sind wir, in Jean Lucs Arbeiten, in diesen Kompositionen von Fremdem und Vertrautem, erkennen Sie sich wieder wie in einem kostbaren Spiegel.

 

Braunschweig 2009
Gilbert Holzgang

 

 


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