Die Collage als Erzählung

 

 

In dem Buch „Lauf Jäger lauf“ des in der Nähe Hannovers lebenden Schriftstellers Henning Ahrens ist ein junger Mann im ICE unterwegs, um in der Hauptstadt ein neues Leben anzufangen. Während der ICE anhalten muss, um einen Gegenzug durchfahren zu lassen, schaut der junge Mann aus dem Fenster – und blickt in die schönen braunen Augen eines Fuchses. Als der Zug wieder anfährt, ist der junge Mann von diesem Anblick so verwirrt, dass er gegen alle Logik die Notbremse zieht, aus dem Zug steigt und dem Tier nachstellt.

 

Mit diesem Ereignis auf offener Strecke setzt der Roman ein und wird zum Ausgangspunkt der nun folgenden famosen Erzählung. Der junge Mann schlägt sich in die Unübersichtlichkeit der Felder, um vom Zug aus nicht mehr gesehen zu werden, und fällt zur großen Freude des Lesers mitten hinein in ein Abenteuer. Er gerät erst in die Fänge und dann in den Bann der Widergänger, einer rüden, etwas trottelhaften Bande, die mit vorsintflutlichen Schusswaffen herumfuchtelt, sich fast ausschließlich in Volkslied- und Märchenzitaten verständigt und auf einem verfallenen Gutshof ohne elektrisches Licht, dafür aber mit Kaffeemaschine und Zigarettenautomat haust. Gelegentlich schießt ein Düsenjäger über den Himmel - und doch merkt der Leser bald, dass der junge Mann an einem Ort angekommen ist, der außerhalb der Zeit, im Hinterland der Wirklichkeit liegt, wie Henning Ahrens es im Nachwort seines Buches formuliert. Das Buch ist leicht zu lesen, weil einem das, was man liest, so seltsam vertraut vorkommt. Und doch mischt sich Unbehagen ein, weil irgendetwas in der Geschichte nicht stimmt. Das kommt daher, dass alles, was einem in der Geschichte bekannt vorkommen mag, in diesem Buch quasi auf den Kopf gestellt ist. Statt der Gesetze der Logik und der Vernunft gelten nun die Regeln der Kunst, wodurch dem Leser das seltsam vertraut Vorkommende in der Erzählung langsam aber sicher unheimlich wird.

 

Nun wird sich jeder fragen, weshalb ich meine Betrachtung über die Collagen von Jean Luc über die mit der Beschreibung eines wenn auch bemerkenswerten Buches begonnen habe. Ganz einfach: Der Autor Henning Ahrens bedient sich in seinem Buch genau den Techniken der Collage, die auch Jean Luc vertraut sind und die er bei seinen Bildern anwendet.

 

Nehmen wir nur die Einladungskarte zu dieser Ausstellung. Auch hier schaut uns jemand, schauen uns Augen an. Jean Luc fängt seine Collagen oft mit einem Bild von jemandem an.

 

Ich habe gesehen, dass er zu Hause viele Bilder von Männern besitzt, die ihn irgendwann einmal angesehen haben, so angesehen haben, dass er sie ausschneiden musste. Weshalb musste er sie ausschneiden? Weil sie ihm mit ihrem Blick etwas gesagt haben, etwas, das nur er, der Künstler, hören konnte. Anders als der junge Mann in der Geschichte kann Jean Luc aber darauf warten, dass seine Figuren irgendwann in seinen Bildern Platz nehmen werden. Denn die Augen allein bedeuten noch nicht, dass es zu einer Collage kommen kann. Auch der junge Mann in Henning Ahrens Roman hatte sicherlich schon früher schöne Augen gesehen, bevor er diesen begegnete, die veranlassten, dass er die Notbremse zog und sich in sein Abenteuer stürzte. Es musste noch etwas anderes hinzukommen: Der junge Mann in Ahrens Buch ist sich seines bisherigen Lebens so überdrüssig, dass er sich ohne Bedenken in ein Abenteuer stürzen kann, und will, als ihm das Unerwartete begegnet. Das Unerwartete geschieht oft, schrieb der französische Autor Andre Malraux.

 

Wie beginnt Jean-Luc seine Erzählung? Wann zieht er die Notbremse? Wie kommt eben jener Mann auf das Bild der Postkarte? Wann trifft ihn das Unerwartete? Jean Luc sagt von sich, er sei ganz unbewusst auf der Suche nach dem ersten Motiv. Er legt auf einem Stück weißen Karton Bildschnipsel zueinander. Mit einem Mal entsteht eine Spannung, sagt er dazu. Bilder, die er findet, beginnen ihm eine Geschichte zu erzählen. Alle seine Bilder erzählen eine Geschichte, aber welche, das weiß auch Jean-Luc am Anfang noch nicht.

 

Jean Luc hat in seinem Leben schon viel gesehen, gedacht, getan und gemacht. Auch Jean Luc ist ein Reisender, einer, der unterwegs ist nach Abenteuern, die sein Leben verändern können. Eine seiner Ausdrucksformen ist die Kunst. Er hat gemalt, gedruckt und Kalender gemacht. Seit 1987macht er systematisch Collagen, seine persönliche künstlerische Ausdrucksform.

 

Man bedenke, jeder Teil der Collage war vorher Teil eines anderen Bildes, einer Abbildung der sogenannten Wirklichkeit. Jean-Luc blättert durch Zeitschriften, deren Werbeseiten ihn besonders interessieren, denn es sind die im Alltag erscheinenden Dinge, die da abgebildet sind und Kunstbände, wegen des besseren Papiers.

 

Dann, plötzlich, schaut er in die Augen eines Mannes (meist eines jungen Mannes). Dieser Zufall spielt eine wichtige Rolle bei seinem Schaffen, sagt er, denn es ist ein Ausdruck seines Unterbewusstseins, das sagt: jetzt, dieser. Und schon schneidet er den jungen Mann aus, findet ein Format, das ist ihn ganz wichtig, denn die Geschichte muss einen Rahmen haben, und der Prozess beginnt.

 

Der Prozess, mit der Wirklichkeit zu spielen, einer Wirklichkeit, die eigentlich keine mehr ist. Jean Luc ist auch ein Schelm, der an einer Biegung der Realität gern der Versuchung nachgeht, aus dieser zu entkommen, für die Zeit eines Bildes, einer Geschichte.

 

Jedes Bild sei ein Abenteuer, sagt er, denn scheinbar gibt es so viele Möglichkeiten dafür, wohin die Reise seiner Geschichte geht, die er erzählen will. Was dabei herauskommt, weiß er anfangs nicht. Mit der Zeit treten neben den Mann, den er abbilden will, weitere ausgeschnittene Bildelemente, Teile der Wirklichkeit, die sie vormals abbildeten. Jean Luc legt diese Teile zueinander, in ihm bildet sich eine Vision, eine Ahnung von dem, was aus dem Bild, der Geschichte einmal werden wird. Je länger er sich mit den einzelnen Bildelementen befasst, sie zueinander fügt und wieder voneinander trennt, entfernt er sich immer weiter von der Realität dessen, was sie einmal abgebildet haben. Aus den genauen Abbildungen, aus denen er die Bildelemente entnommen hat, entsteht etwas Neues, so noch nicht Dagewesenes, entsteht eine neue Collage.

 

Es entstehen Kunstwerke, die die Wirklichkeit verrätseln, wie er es nennt. Dann der magische Moment: jetzt steht es, alle Teile haben zueinander gefunden, sind zu einer Collage geworden, einem neuen Bild im Hinterland der Wirklichkeit. Denn seine Bilder möchten betrachtet werden. Sie bieten eine Projektionsfläche, für unsere Wünsche, Träume, Hoffnungen und Ängste. Sie laden uns ein, für den Augenblick des Betrachtens aus unserer eigenen Wirklichkeit auszusteigen, wie der junge Mann im ICE.

 

Michael Schmidt, 2002

 


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